Jahresgabe

Wilde Leute

Varga Weisz, Paloma

Die aus der Tonmasse modellierten Wesen sind weder Mensch noch Tier, auf ihre fein ausformulierten Gesichter folgt ein formloser Körper, der in unregelmäßigen Kurven um sich greift wie ein Schwamm auf einer Tafel. Reizvoll auf der Kippe zur vollständigen Auflösung erinnern Paloma Varga Weisz’ Wilde Leute an jenen golemartigen Schöpfungsvorgang, in dessen Verlauf sich zuallererst die charakteristische Lebhaftigkeit in den Gesichtszügen herausgebildet hat. Während der restliche Körper noch die unscharfen Konturen der sie formenden Hände trägt, stehen die hybriden Geschöpfe an der Schwelle zur Vollendung und dienen als fleischliches Gebäude einer minimalen Sesshaftigkeit. Ausformungen aller Art werden diskutiert, körperlicher wie sozialer Struktur. Doch wer formt hier eigentlich wen?

Die drei Figuren, die erstmals als keramisches Ensemble 1998 in Varga Weisz’ erster Einzelausstellung in der Galerie Bochynek in Düsseldorf auftraten und die für die diesjährige Jahresgabe in Bronze übersetzt wurden, behandeln den Körper als Austragungsort fantastischer Ideen: Die dreifaltige Normkonstruktion Vater-Mutter-Kind weicht einem geschlechterlosen Gespann mit auswüchsigen Ohren und amorphen Körperformungen. Zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, zwischen Derbheit und Zartheit, zwischen Autonomie und Begrenztheit, probt Varga Weisz’ Familienentwurf eine Szene elterlicher Fürsorge. Doch gleich dem ideengeschichtlichen Denkbild, das die mythologische Figur der Pandora verkörpert, hängt der transgressive Wunsch nach einer möglichen Daseinssteigerung wie ein Schleier vor dem Proszenium familiärer Harmonie. Denn das gestische Ringen um Aufbruch und Verfall wirkt wie das Standbild eines Schauplatzes aus dem Paradies: Wie die von Hephaistos aus Lehm geformte Pandora stellt man sich vor, was wohl unter dem Deckel dieses gnadenlos freundlichen Gebarens brodelt.

– Ruth Magers